Das kleine, grosse Haus
Auf der Einladungskarte für die Hausbesichtigung haben wir das Foto des G. Low Houses, Rhode Island von Mc Kim, Mead und White platziert. Es steht nicht für eine Absichtserklärung auf Imitation oder zum Zwecke einer sofortigen stilistischen Benennbarkeit. Es steht vielmehr für den Glauben an das Affine und Vertraute, das man dazu am Haus Biene wahrnehmen wird. Es verweist auf die Absicht nach der Suche universal gültiger Urphänomene, die das Wohnen betreffen und die, gerade wegen ihrer identischen Natur des „Architektonischen“ gleichzeitig in regionalen und aussereuropäischen Architekturen auftauchen. Das „Architektonische“ für ein Wohnhaus auf dem Lande ist atmosphärisch als das Bedürfnis nach dem Vertrauten, Beruhigenden, Anheimelnden und Geborgenen zu verstehen. Die dazu eingesetzte Methode muss als Verdichtung und Erforschung derjenigen Elemente gesehen werden, die tief in der Natur des Wohnens liegen, die archetypisch dafür sind.
Das Low House (1887), eines der zahlreichen „Houses of the American Summer“ von Mc Kim, Mead und White wird auch das kleine, grosse Haus genannt. Es handelte sich um einen eigentlichen ikonoklastischen Bruch, da das Haus in seinen Dimensionen riesig ist, aber in billigstem Material (Holzrahmenbau) erstellt wurde. Es weist in einer frappierenden Gleichzeitigkeit manierierte Proportionen auf, wie es auch an triviale, periphere Bauten erinnert. Diese Häuser schufen aus dem Trivialen eine Art neue, bildliche Tradition.
Diesen Ansatz versucht das Haus Biene auf mehrere Arten auszuloten. Im Umgang mit der Massstäblichkeit des Hauses bauen seine (für ein Grundstück von 2000m2 eigentümlichen!) Proportionen und Fensteröffnungen zwar vordergründig zu den umliegenden Alltagsarchitekturen Vertrautheit auf, gehen aber gleichzeitig auch von neuen Verhältnissen aus, die von heutigen, konstruktiven Möglichkeiten berichten. Die für einen Holzbau enormen Öffnungen (bis 7.5m Breite!) sind auf den Stirnfassaden strukturell und auf den Längsseiten als Lochöffnungen auf den ersten Blick frei und kompositorisch gesetzt. Mehrfachlesbarkeit entsteht auch über die Verweise auf die inneren Raumzusammenhänge und die Dominanz der Hanglage, vor allem aber über die Suche nach einer möglichst prekären Balance zwischen Öffnung und Schliessung der Flächen.
Die durch die Dimensionen drohende Desavouierung der Umgebung wird über das Material und seinen Einsatz versöhnt. Die Konstruktion des Hauses als Holz-Elementbau mit einem textilen Kleid aus Tannenschindeln entspricht prima vista nicht den Festigkeitsansprüchen, die man für ein Haus mit repräsentativem Anspruch erwarten würde. Das Potenzial der Kleinteiligkeit der Holzschindeln ist die Möglichkeit der Übersteigerung formaler Möglichkeiten, die das arbeitsintensive an der Konstruktion, das Handwerk selbst zelebrieren. Das schimmernde Ornat der Schindeln wird dahingehend thematisiert, dass verschiedene Luminositäten voll zum Tragen kommen; das Schwingende, Konvex-Konkave verweist auf das Äussere als raumplastisches Kontinuum und setzt den den Baukörper unter Spannung. „The effect was of simple, solid geometry organized into bold contrasts of solid and void, with an animated, textured surface that celebrated the play of light.“ 1
Gleichzeitig besteht ein konstruktiver und tektonischer Anspruch. So wird die konstruktive Aufladung der traditionellen Abwürfe über den Fenstern in Form einer ‚Augenbraue’ trotz fassadenbündiger Fenster zur Möglichkeit den Sonnenschutz komplett in die Fassade zu integrieren. Weil diese ‚Kleiderfalten’ nicht auf die lokalen Öffnungen begrenzt werden, bilden sie die neue tektonische Ordnung, die die Fassade insgesamt gliedert. Tannenbaumartig verschieben sich die Fassadenebenen von Geschoss zu Geschoss nach Aussen: sie rufen damit den verborgenen Elementaufbau des Tragwerks in Erinnerung und gleichzeitig erfährt der Baukörper in der Vertikalen eine optische Stabiliserung.
Wie Christopher Alexander es in seiner Mustersprache formuliert, ist ein Gebäude mit durchlaufend gleichen Raumhöhen praktisch ausser Stande Wohlbefinden zu vermitteln. So sind die Räume des Hauses aus ihrer Unterschiedlichkeit zueinander heraus konzipiert. Jeder Raum hat neben seiner eigenen Dimension der Grundfläche seine spezifische Höhe und in den oberen Geschossen einen jeweils geometrisch unterschiedlichen Ausschnitt der Dachuntersicht: in den Räumen kann das ‚schützende Dach’ erfahren werden.
Das Haus entwickelt sich im Grundriss aus wenigen, grossen Raumkammern, die bis auf die Ausnahme von Schlafzimmer und Bad jeweils die ganze Hausbreite durchmessen, damit zwei Gebäudeecken besetzen und so jeweils dreiseitig belichtet werden. Wie auch in den „Shingle Style“ Häusern von Mc Kim, Mead & White bestimmen Ort und Art der Treppe die räumliche Entwicklung des Hauses. Es handelt sich um einen eigentlichen Zirkulationsraum, ein wirkliches „Treppenhaus“, das durch die Grosszügigkeit der Treppenbreite, ihre zentrale Lage, ihren Zusammenhang zur Eingangshalle mit breiter Eingangstüre und ihrem oberen Abschluss als Dachwohnraum entscheidendes Moment für das Haus wird. Der dunkle Treppenturm wirkt räumlich als Stützpfeiler, welcher dem gesamten Raumgefüge, das durch die enormen Dimensionen und der dazu ambivalent ‚dünn’ erscheinenden Holzfassade geprägt wird, Festigkeit und Halt zu verleihen.
Das Gebäude sucht für die Übergänge von Innen zum Aussen, für seine Kantenabwicklung, nach möglichst vielen Versionen. Die Fensteröffnungen weisen niedrige Brüstungshöhen und tiefe Leibungen als Sitzgelegenheiten auf; die tief eingezogene Loggia, die Laube und der Eingang werden zu geschützten Orten, wo der Umraum in das Haus eindringt.
1 The houses of Mc Kim, Mead & White; Samuel G. White Rizzoli Verlag New York 1998; S. 14
Wohnhaus Biene
Weinfelden 2005
Architektinnen:
Aita Flury, Silvia Kopp
Ingenieure:
Conzett Bronzini Gartmann AG
Auszeichnungen:
Best architects 2008
Publikationen:
werk, bauen + wohnen 2005/12
Best Architects 2008
Sonntag 2008/26
Low House, Rhode Island 1878
Architekten: Mc Kim Mead and White