Ausgangslage
Die Rhätische Bahn AG (RhB) veranstaltet eine einstufige Projektstudie im Einladungsverfahren für die Gestaltung der Tunnelportale auf dem Streckenabschnitt Thusis – St. Moritz (Unesco-Welterbe) im Zusammenhang mit dem Linienkonzept Albula für die Erneuerung von Tunnelbauwerken. Unter Verweis auf die in den Leitsätzen der EKD zu Rekonstruktion und Wiederherstellung dargelegten Überlegungen lehnt die EKD die von der RhB vorgeschlagene Rekonstruktion der Tunnelportale, die bereits bei 3 Tunnels durch das Ingenieurbüro Conzett Bronzini Ingenieure AG umgesetzt worden ist, ab. Die Projektstudie fokussiert deshalb die Frage der Gestaltung der Tunnelportale inklusive ihrem Übergangsbereich ins Tunnelinnere.
Die RhB besitzt 115 Tunnels mit einer Gesamtlänge von fast 59 km, das sind rund 15% des gesamten Streckennetzes. Der Grossteil der Tunnels wurde zwischen 1901 bis 1914 erbaut. Die Tunnelbauwerke sind eine Meisterleistung der Ingenieure, geprägt vom einstmaligen Pioniergeist - die Konstruktionen haben den Beanspruchungen über ein ganzes Jahrhundert hinweg standgehalten und seit deren Erstellung waren keine oder nur minimale Interventionen nötig. Die Zustandsüberprüfungen haben gezeigt, dass heute, nach mehr als einem Jahrhundert intensivster Nutzung, sich die Tunnels ihrem Lebensende nähern. Zudem besteht ein Nachholbedarf in Bezug auf Sicherheits- und Nutzungsanforderungen.
Wegen der grossen Anzahl einheitlicher Tunnel mit gleichem Ausbaustandard und gleichen Schadensbildern und um die Instandsetzungsmassnahmen möglichst kostengünstig und effizient umzusetzen wurde ein standardisiertes Verfahren mit Tübbing-Elementen entwickelt. Die Projektstudie soll aufzeigen, wie die ebenfalls technisch notwendige Erneuerung des Portals inklusive Übergangsbereich gestalterisch präzise ausformuliert werden kann, sodass die Erneuerung des Portals ersichtlich wird, gleichzeitig aber der Zusammenhang zum Gesamtensemble der Kunstbauten der Albulalinie gewahrt bleibt.
Rekonstruktion - imitatio
Der Ingenieur Jürg Conzett plädiert mit folgenden Argumenten für die Rekonstruktion der Portale:‚Die Kunstbauten der Albulabahn (Viadukte, Tunnel, Stütz- und Futtermauern, nebst Durchlässen und Galerien) basieren auf zwei grundlegenden materiellen und formalen Elementen, nämlich Natursteinmauerwerk aus lokal gewonnenen Steinen und Halbkreisbogen, die in absoluter Konsequenz eingesetzt sind. Der lokal gewonnene Stein der Kunstbauten (Kieselkalk, Kalkdolomit, Verrucano, Hauptdolomit, Triaskalk, Granit, Gneis) widerspiegelt die durchfahrene Landschaft. Auch bei den Tunnelbauten war der Halbkreis Teil einer bewussten Entscheidung. Die Versammlung der ‚bodenständigen‘ Steine und das Insistieren auf der traditionellen Halbkreisform machen die Albulabahn zu einem herausragenden Werk der Nationalen Romantik im Vorfeld der Heimatschutzbewegung. Eine Abkehr von der Verwendung des Steins und des Halbkreisbogens bei den Tunnelportalen der Albulabahn würde ihren systemischen Charakter und damit ihr wesentlichstes Merkmal zerstören. Neue Portale in zeitloser Mauertechnik, unter proportionaler Anwendung der seinerzeitig für den Bahnbau gültigen Normalien. Befreien wir die Portale von interpretatorischem Ballast: sie sind Antwort auf eine Notwendigkeit, sie geben nicht vor, das verlorene Denkmal sei leicht wieder erneuerbar, sie höhlen kein gesellschaftliches Engagement für die Erhaltung historischer Substanz aus, sie sind auch nicht als Prototypen für Probleme ausserhalb der RhB gedacht. Verzichten wir auf die Kohärenz der Tunnelauskleidung! Ein neues steinernes Auskleiden der ganzen Tunnelröhre wäre ein technisches Unding und würde zu Recht die Kritik am Versuch der Rekonstruktion auf sich ziehen - umgekehrt wäre ein nach aussen Ziehen der Betonschale sichtbarster Verlust der materiellen Einheitlichkeit.’
Credo: Wahrung systemischer Charakter der Albulabahn, Wahrung der Proportionen, Wiederverwendung des bestehenden Baumaterials, stellenweiser Ersatz ausgewählter Teile
Forderungen EKD + BAK
Die EKD und das BAK fordern im Sinne einer zeitgenössischen Leistung eine Lesbarkeit der neuen Eingriffe, die die Sanierung der maroden Tunnel erfordern. Dies soll unter Berücksichtigung der Materialisierung und unter Wahrung eines harmonischen Gesamteindrucks durch geeignete, wohldefinierte Massnahmen an den Portalen der zu sanierenden Tunnels umgesetzt werden.
Räumliche Analyse
Neben der Nicht-Erkennbarkeit der inneren (konstruktiven) Veränderung (neues Material Beton, veränderte Geometrie und vergrössertes Lichtraumprofil) sprechen aus architektonischer Sicht folgende 2 Argumente gegen eine (hochskalierte) 1:1 Rekonstruktion:
1. Bedingt durch die unterschiedlichen Geometrien zwischen Tübbing-Elementen und Hufeisenprofil ist es schwierig den Übergang zwischen Betonelementen und formwilden Mauerwerk sauber zu lösen.
2. Die originalen Tunnelportale sind nicht die highlights aller Kunstbauten auf der Albulastrecke. Sie zeigen eine behäbige Wirkung, ihnen eignet ein eher düsterer Ausdruck an. Das Untersetzte, das in ihnen aufscheint, steht in direktem Zusammenhang mit den gedrungenen Proportionen des Tunnellochs: im Gegensatz zu den hohen Pfeilern der Bogenbrücken der Albulalinie sind die Paramente der Tunnelöffnungen sehr kurz. Zusammen mit dem Halbkreisbogen führt das zu einem gepressten Ausdruck der schwarzen Tunnelöffnung, der zusätzlich verstärkt wird durch die optische Schwere des rustikalen ‚Haarreifs’ aus konischen, bossierten Kranzsteinen. Unter der Prämisse, dass die systemische Identität gewahrt wird scheint deshalb eine feinräumliche Justierung der Wirkung der Portale durchaus adäquat, ja wünschenswert.
Projekt
Interpretation-adaptatio
Der neue Vorschlag sucht nach einem Umgang mit den Tunnelportalen, in welchem alle Hauptforderungen aus Jürg Conzetts Analyse ernst genommen werden: Wahrung des systemischen Charakters der Albulabahn, Wahrung der Proportionen, Wiederverwendung des bestehenden Baumaterials, stellenweiser Ersatz ausgewählter Teile, materielle Einheitlichkeit – Ehre dem Stein.
Im Gegensatz zur Rekonstruktion 1:1 wird durch den Neubau der Portale die Chance einer feinräumlichen Interpretation möglich, die einen authentischen Geist und Kontemporanität atmet. Unter gleichzeitiger Beibehaltung einer Nähe zum Original zeigt der Vorschlag also den Anspruch auf Korrektur und Abänderung, das Streben nach einer Übersetzungsleistung und Reaktion auf die neue Situation/Zeit. Nebst dem Erhalt der Strukturmerkmale werden deshalb gewisse Aspekte neukonstituiert und bestimmte Elemente modifiziert.
Der Fokus liegt dabei auf einer transformatorischen Feinjustierung des Originals auf der Grundlage des vorgefundenen Materiallagers und seiner Anreicherung. Ehre dem Stein bleibt deshalb zentrales Credo. Auf ein didaktisches Nach-Aussen-Ziehen von Betonteilen oder Ortsbeton wird konsequenterweise verzichtet.
Der Vorschlag umkreist die Fragen, wie in einer Steinarchitektur Hinweise auf Veränderung, Weiterbauen, Adaption umgesetzt werden können. In welcher Form kann der Naturstein angewendet werden, um ein Amalgam zu schaffen zwischen den glatten, abstrakten hochindustriellen Tübbing-Betonelementen der inneren Auskleidung mit ihrer abweichenden Geometrie und den archaischen, handwerklichen Mauern aus formwilden Steinen vor dem Tunnel? Welche Mittel stehen zudem innerhalb des Materials Naturstein und der Steinbauweise zur Verfügung, um die Wirkung der Portale auf einen zweiten Blick zu justieren, um diesen zu mehr Erhaben- und optischer Leichtigkeit zu verhelfen? Wie kann der Schwere eine Geste der Freundlichkeit eingeschrieben werden?
Das Eintauchen in die Welt der Natursteine, in ihre bauliche Tradition und die damit einhergehenden Bearbeitungen der Oberflächen, die Auseinandersetzung mit Formaten und Verbänden bildet die Basis um den Sinn für Relief, Tiefe und skulpturale Qualitäten innerhalb dieses Materials zu schärfen. Das Material Naturstein will gut untersucht sein, da es im Umgang damit nicht wenig Fallen gibt.
1. Reuse
Es werden alle noch brauchbaren, formwilden Handmauersteine wiederverwendet. Sie finden ihren Einsatz wie gehabt in den seitlichen Flügelmauern sowie im Körper der Portalmauer selber. Die oberen Abschlüsse dieser Mauern werden wie im Bestand mit einem optisch weichen Abschluss als Verbund aus stehenden und liegenden Steinen ausgeführt. Fehlende Steine werden aus dem Steinbruch Frasteals bei Solis ergänzt. In diesem Sinne sind auch allfällige andere Reparaturarbeiten bei Mauerkörpern auszuführen.
2. Futteral
Zur Vermittlung zwischen der standardisierten, industriellen Bautechnik im Inneren und der groben Handwerklichkeit der äusseren Mauern wird ein Übergangsstück, ein Futteral mit kleinformatigeren, präziseren Kieselkalk-Steinen gemauert. Diese sind gesägt und gespalten, ihre Kanten gebrochen. Ihre gespaltene Oberfläche vermittelt zu den formwilden Steinen aussen, ihre präzisen Formate ermöglichen das problemlose Verziehen von äusserer Geometrie (Halbkreisbogen) zu innerer Geometrie (Tübbing).
3. Spolien
Die Kranzsteine des heutigen Portalbogens werden wieder verwendet. Da sie durch die Aufskalierung der Portalöffnung um rund 10% zu klein sind macht es Sinn, sie auf neue Art und Weise anzuordnen: Die Kranzsteine werden als verzahnende Elemente zwischen innerem Futteral (gesägt/gespalten) und äusseren Handmauersteinen (formwild) interpretiert. In ihrer konstruktiv schlüssigen, zueinander versetzten Anordnung werden sie klar als Spolien lesbar, welche auf subtile Weise auf die Sprengung/Aufweitung des ursprünglichen Tunnelportals hinweisen - ohne dabei in irgendeiner Form didaktisch zu sein. Der vormals steif und isoliert wirkende Kranzsteinbogen wirkt leichter, kontextueller, ‚moderner‘.
4. Werksteine: Stele/Wandpilaster
Ähnlich wie beim Bogen die Kranzsteine das verzahnende Moment zwischen Innen und Aussen leisten tun dies im Bereich der Paramente beidseitig neu eingeführte, vertikale Werksteinelemente: Diese Stelen/Wandpilaster sind so gegliedert, dass sie auf abstrakte Weise an Säulen erinnern - Kapitell, Schaft und Sockel scheinen darin auf. Diese neuen, plastischen, vertikalen Elemente verankern die Portalwand und das schwarze Tunnelloch optisch am Boden, geben ihnen Halt. In ihrer Plastizität knüpfen sie an die behauenen Kranzsteine an, von denen jeder Einzelne ein kleines, körperhaftes Alpenrelief auf sich trägt. Im Gegensatz zu den Kranzsteinen werden die Stelen randabfallend bearbeitet, behauen und gespitzt. Einseitig wird auf einer sehr abstrakten Ebene eine Figur herausgearbeitet, die Assoziationen zur Heiligen Barbara weckt. Es sind hochbearbeitete Werksteine, die mit einem bildhauerisch/künstlerischem Anspruch individuell und adäquat auf die spezifische Situation hin bearbeitet werden.
Fazit
Die Kombination der vorgeschlagenen Massnahmen Reuse, Futteral, Spolien und neue Werksteine führt zu einer wirkungsmächtigen Verfeinerung der heutigen Rekonstruktion unter gleichzeitiger Wahrung des Systemcharakters.
Die verfeinerte Detaillierung und die damit einhergehende erhöhte Planung sowie die künstlerische Bearbeitung einzelner Elemente verstehen wir als kompensatorische Massnahmen für die maximal invasiven Eingriffe im Tunnelinneren. Sie stehen aber ganz einfach auch für die respektvolle Sorgfalt, die jeder Fassadengestaltung zukommen muss: ein Tunnelportal ist de facto nichts anderes als die Fassade, das Gesicht des Bauwerks Tunnel.
Tunnelportale Albulalinie
Projektstudie 2023
ArchitektInnen:
Aita Flury Architektur GmbH
IngenieurInnen:
Schnetzer Puskas Ingenieure AG
LandschaftsarchitektInnen:
raderschallpartner Landschaftsarchitekten AG
Tunnelportal Muot Bestand
2023