Ausgangslage
In der Siedlung Geissenstein - eine der frühsten genossenschaftlichen, quartierbildenden Bebauungen - sind alle über mehr als 100 Jahre entstandenen Entwicklungsetappen heute noch vorhanden und zeigen sich als einzelne städtebaulich-architektonische Abschnitte, mit qualitätsvollen Architekturen, vor allem bei den frühen Etappen. Die geforderte sensible Eingliederung in den Ortsbaukontext wird deshalb so interpretiert, dass die neue Bebauung durchaus mit einer eigenen Identität entworfen wird, gleichzeitig der Grad an Fremdheit zu den frühen, historisch wertvollen Bauetappen aber genau kontrolliert/limitiert wird: Die Siedlung Geissenstein wird in ihrer Gesamtheit nämlich nur gestärkt, wenn die mit den letzten Bauetappen entwickelte Disparität zwischen den Abschnitten reduziert wird, wenn die neue Setzung und ihr architektonischer Ausdruck dazu beiträgt wieder mehr räumlich-atmosphärische Zusammenhänge zu schaffen.
Städtebau
Der Entwurf entwickelt die Gartenstadt deshalb in einem ‘austarierenden’ Weg weiter und sucht die Nähe sowohl zur Gestalt der zu ersetzenden MFHs der zweiten Bauphase (1930-35, Architekt Ribary, Neues Bauen, Siedlung am Rain) als auch zu den westlich angrenzenden Einzel- und Reihenhäusern der ersten Bauphase (Heimatstil): Vier schlanke, unterschiedlich lange Zeilenbaukörper werden beidseitig und parallel zur Strasse Am Rain platziert. Auf selbstverständliche Weise strickt das neue strassenraumbildende Ensemble die Dorfstruktur weiter. Die beiden längeren Gebäude werden jeweils mittig in ihrer Höhe abgestaffelt um eine ideale Adaption der Erdgeschossniveaus auf die bestehende Strassenneigung zu ermöglichen – optisch erscheint die Gebäudegruppe so aus 6 Häusern zu bestehen, was auf den heutigen Bestand referenziert.
Obwohl eine neue Dichte/Höhe etabliert wird wird die Massstäblichkeit der ersten Bauetappe nicht desavouiert: Die langen Baukörper zeigen eine feinräumliche Modulation ihrer Abwicklung sowohl in der Horizontalen als auch in der Vertikalen: Hervorspringende und über den Dachrand aufragende Balkontürme auf den Südseiten und (Küchen-)Erker auf den Nordseiten gliedern die Volumina und verzahnen sie mit ihrem Umraum. Es handelt sich dabei um die Wiederaufnahme und Neuinterpretation architektonischer Mittel, die sowohl bei der ersten als auch bei der zweiten Bauetappe gestaltprägend und identifikationsstiftend sind.
Die neuen Baukörper sind so platziert, dass sowohl am westlichen als auch am östlichen Ende des Perimeters jeweils auf der einen Strassenseite ein Leerraum den Auftakt in die neue Begegnungszone Am Rain macht. Während der Platz im Osten der Ankunft mit dem Fahrrad und weiteren informellen Begegnungsmöglichkeiten dient handelt es sich beim Platz im Westen um einen Ort der Gemeinschaft, der die Verlängerung des Geissbockwegs bildet und dem im Norden platzierten, eingeschossigen Pavillon (Siedlungslokal) vorgelagert ist.
Parallel zu dieser westlichen, neu gestärkten Süd-Nord Beziehung wird ein Weg durch die Mitte des neuen Ensembles etabliert: Dieser führt in logischer Fortsetzung des Zugangs von der Dorfstrasse über den Hof den Hang hoch, weitet sich zwischen den neuen Bauten jeweils platzartig auf und führt über die Quartierstrasse Am Rain bis hin zum nördlichen Gratweg, dem Weinbergliweg. Die leichte Verschiebung der 4 Baukörper zueinander erhöht dabei die Durchlässigkeit und es entstehen räumlich spannende Sequenzen.
Alle Haupteingänge der Wohnhäuser liegen an der Begegnungszone Am Rain. Deren Atmosphäre ist geprägt durch die beidseitigen Vorgartenbereiche, die als private Aussenräume ausgebildet werden. Die aus der Strassensteigung entstehende Terrassierung und Einfriedungstypologie orientiert sich an den Reihenausvorgärten der ersten Bauetappe im Westen der Dorfstrasse. Sie führt zudem in logischer Weise die bestehenden Mauertypologien entlang der Am Rain Strasse weiter. In diesem Sinne wird die Begegnungszone denn auch bis zum westlichen Hofaufgang hin verlängert. Die Begegnungszone selber ist zoniert in eine Fahrbahn (3.5m), in einen begrünten Streifen mit Bäumen/Bänken (1.4m) und in einen durchgehenden Gehbereich (1.4m). Das Zusammenwirken aller genannten Elemente führt zu einer wohnlich-belebten Aussenraumsituation, an welcher alle neuen Wohnbauten teilhaben und die zum gebauten Manifest des genossenschaftlichen Miteinanders wird.
Landschaft, öffentlicher Raum und Freiraumgestaltung
Die Heckenbepflanzung der Vorgärten an der Dorfstrasse wird östlich um den Perimeter gezogen in Richtung des (historischen) Fusswegs zur Weinberglistrasse-Tribschen. Diese Umfassung des Quartierraums geht im Innern über in das beschriebene feingliedrige Wegnetz zwischen den Neubauten und die von Vorgartenmauern begleitete Adresse Am Rain. Blutpflaumen und Föhren könnten zu Adressbäumen in der Strasse werden, farbige Sitzbänke dienen der Aneignung der Strasse als wohnungsnahe Frei- und Spielräume. Im Umgriff der Gebäude werden Kies- und Pflasterwege angelegt, keine vollversiegelten Flächen also, und die Vorzonen der Hauszugänge zeichnen sich in der Strasse ab als flächig gepflästerte Austritte.
Im Osten, zur reformierten Kirche Weinbergli wird mit Brunnen, Grill, Sitzbänken, Containern und der gedeckten Veloparkierung ein Treffpunkt für das Quartier entwickelt.
Vier Linden oder Kastanien markieren den westlichen Gemeinschaftsplatz zwischen der Strasse und dem Pavillon. Sie betonen den öffentlichen Charakter dieses in das Wohnquartier eingeschriebenen Ortes, der in der weiteren Verlängerung des Richard-Wagner-Weges am Grat des ehemaligen Weinbergs liegt.
Die bestehende zentrale Spiel- und Gartenanlage südlich Richtung Dorfplatz wird übernommen, wodurch wir uns im Perimeter des Eingriffs auf das Schaffen von Naturwerten und informellen Spielmöglichkeiten konzentrieren können: Blumenwiesen, Strukturen mit Totholz, mineralischen Substraten, Wildstaudenflächen und Nährgehölzen, integriert in eine räumlich lesbare hierarchische Ordnung. Dadurch wird die Orientierung gewahrt und der Unterhalt adressiert.
Die Balkonflächen wie auch Teile der Dachflächen inkl. Pavillon und Velodach können in den hausnahen Grün- und Kiesflächen versickert werden. Die vorgeschlagenen Baumrabatten in der Strasse am Rain vermögen das Platzwasser teilweise zu versickern. Insgesamt kann mit der Aussenraumgestaltung eine hausnahe ‘ökologische Tiefe’ erreicht werden, die der subtilen Ausdifferenzierung und Bezugnahme des architektonischen Ausdrucks entspricht.
Architektonischer Ausdruck
Der Entwurf zielt darauf ab vermittelnd zu agieren, indem eine Nähe zu den vorhandenen historischen Bauteilen und Bauweisen hergestellt wird. Zentral für den Ausdruck der beiden ersten Bauetappen – so unterschiedlich sie in ihrer Detailgestaltung sind – sind murale Gebäude, additive Balkon- oder Erkerelemente in Holz und schräge Dächer. Die neuen Gebäude operieren mit genau diesen Elementen und transformieren sie auf heutige Rahmenbedingungen und Bedürfnisse. So werden Ribarys ins Auge springende, grüne Balkontürme zur geistigen Spolie für die neuen Wohnungsaussenräume: Kräftige, ebenfalls grünliche Balkontürme werden durch ihre Holzkonstruktion mit integral konzipierten PV-Flächen zu den gestaltprägenden Elementen der Südfassaden. Die leicht in die Fassaden eingelassenen Türme rhythmisieren die langen Fassaden und verzahnen sie mit ihrem Umraum. Auf den Nordfassaden sind es die ebenfalls hölzernen Küchenerker, die die Bauten massstäblich und optisch greifbar werden lassen. Der Ausdruck der Bauten ist bestimmt durch die Ausbalancierung von gliedernden (Holz-) Massnahmen und Wandflächen mit kräftigen Putzstrukturen.
Wohnungen
Die Schlankheit der Gebäude gepaart mit dem geforderten Wohnungsmix/Wohnungsgrössen führt zu kompakten, peripher liegenden Treppenhäusern an den Nordfassaden. Dadurch wird eine Ausrichtung der allermeisten Zimmer nach Süden möglich, werden bei den Südzeilen die Erschliessungsflächen im EG möglichst reduziert und wird die partielle Ausbildung zu Dreispännern möglich (zwecks Integration der 1.5Zi/2.5Zi Whg). Die Wohnungsgrundrisse zeigen Zellen, die um den offenen Wohn-Essraum gruppiert und von diesem aus erschlossen sind. Dieses von Fassade zu Fassade durchgesteckte Herzstück ist durch seine leichte Verschiebung angenehm zoniert (Wohnen/Essen) und erfährt durch die peripher angedockte ‘Laborküche’ eine zusätzliche diagonale Perspektive. Die Beziehung zwischen Essbereich und Küche ist optisch vorhanden - die Verglasung zur Küche hin gibt dieser aber gleichzeitig eine gewisse Privatheit. Der Wohnbereich und jeweils 1 Zimmer stehen in direktem Bezug zum grosszügigen gedeckten Balkon (10.0m2). Die verschiedenen Wohnungsgrössen sind auf alle vier Häuser verteilt, sodass eine gute Durchmischung der Bewohnerschaft gewährleistet ist.
Siedlungslokal, Tiefgarage, Velokeller
Die Räumlichkeiten für die Gemeinschaft sind in einem eingeschossigen Pavillon aus Holz im nordwestlichen Zipfel des Perimeters platziert. Zusammen mit dem bestehenden Brunnenspiel, dem neuen Spielplatz und dem Gemeinschaftsplatz bei den 4 Kastanien entsteht hier ein neuer Treffpunkt an idealer Lage. Die Tiefgarage wird über die bestehende Tiefgarageneinfahrt erschlossen. Sie ist so unter Haus A und B gesetzt, dass die Baugrube möglichst minimiert wird. Der im Osten (teils unter Haus B) gelegene Velokeller wird über eine separate Velorampe, die der Autorampe angelagert ist, erschlossen.
Tragwerk und Konstruktion
Es handelt sich um ein einfaches statisches Konzept mit übereinanderliegender Tragstruktur. Für das Fassadentragwerk wird ein Einsteinmauerwerk vorgeschlagen, z.B. Porotherm: Porotherm S8 sind geschliffene, wärmedämmende Leichtbacksteine mit Perlitfüllung. Diese Steine sind für Wärmedämm- sowie Schall- und Statik-Anforderungen optimiert. Das Mauerwerk wird nur mit einer dünnen Lagerfuge geklebt erstellt, sodass kaum Feuchtigkeit in das Gebäude gelangt. Dieser einschalige Fassadenaufbau ist tragfähig, schafft ein behagliches Raumklima bietet einen guten Schall- und Wärmeschutz und integriert sich optimal in die mineralische Welt der Gartenstadt. Die Innenwände werden konventionell gemauert. Im Wohn-Essbereich prägt eine auf Sicht gemauerte Vormauerung aus ½ Planmodul Backstein die Atmosphäre. Das Deckentragwerk besteht aus Recyclingbeton. Das Dachtragwerk besteht aus einer Holzkonstruktion, in welcher einfache Kanthölzer mit Dreischichtplatten zu vorfabrizierten Elementen verbunden werden, aus welchen auch die Überhöhen im 3.OG konstruiert sind. Bei den Balkontürmen handelt es sich um komplett unabhängige, vor die Fassade gestellte druckimprägnierte Holzkonstruktionen, sodass aufwändige Kragarmierungen und ähnliche Vorkehrungen komplett entfallen und die unabhängige Erneuerung von Bauteilen mit unterschiedlicher Lebensdauer einfach möglich ist. Durch die langlebigen, robusten und unterhaltsarmen Materialien und ist das Projekt sehr wirtschaftlich bezüglich der Lebenszykluskosten.
Wohnen Am Rain Luzern
Wettbewerb 2023
ArchitektInnen:
Aita Flury Architektur GmbH
Landschaftsarchitekten:
Lorenz Eugster Landschaftsarchitektur und Städtebau GmbH
Siedlung am Rain Luzern
Werner Ribary 1930-1935